Beitrag in Jahrbuch 2023
Geschichte Zukunft braucht Herkunft – warum sich Unternehmen mit ihrer Geschichte befassen sollten
Einleitung
In der dynamischen Welt von heute, die sich durch einen starken Glauben an den Fortschritt und rasche Veränderungen auszeichnet, scheint Geschichte für Unternehmen oft nebensächlich. Ihr Blick richtet sich nach vorne – auf Innovation, die rasche Implementierung neuer Technologien und wirtschaftliches Wachstum. Der Blick zurück erscheint manchen für die Zukunftsgestaltung gar als hinderlich. Diese geringe Beachtung der Geschichte zeigt sich häufig auch im Umgang mit den Quellen und Zeugnissen der eigenen Vergangenheit. In den Unternehmen verschwinden sie nicht selten für viele Jahre in feuchten Kellern oder auf staubigen Dachböden, wo sie schlussendlich aus Kosten- oder Platzgründen entsorgt werden. In den letzten Jahren findet hier jedoch ein Umdenken statt. Dies zeigt sich in der wachsenden Anzahl von Unternehmen, die eigene Firmenhistoriker und -archivare beschäftigen. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland mittlerweile über 200 hauptamtlich geführte Unternehmensarchive. Sie sind von einer großen Typenvielfalt gekennzeichnet und in unterschiedlichen Ausprägungen und Größen vorzufinden. Sie reichen von einfachen Schubladen- und Ein-Mann-Archiven bis hin zu großen Konzernarchiven, die in Umfang und Beständen den staatlichen Archiven in nichts nachstehen [1]. Prominentestes Beispiel: die Automobilindustrie. Unternehmen wie Mercedes, Porsche, BMW und VW beschäftigen in ihren 'Classic'-Centern mittlerweile eine große Zahl an Mitarbeitenden, die sich ausschließlich um die Pflege der Unternehmensgeschichte und -tradition kümmern. In modernen Markenmuseen, wie denen von Mercedes und Porsche, werden Innovation und Geschichte in eindrucksvoller Weise zu einer Einheit, einem Markenmythos, verschmolzen. Diese 'Markentempel' ziehen Jahr für Jahr Millionen von Besuchern in ihren Bann. Die Geschichte hat sich in diesen Unternehmen zu einem zentralen und integralen Bestandteil der Markenkommunikation entwickelt. Auch in den Unternehmen der Agrartechnik ist dieser Trend erkennbar. Unternehmen wie John Deere, Claas, Same-Deutz-Fahr oder Krone betreiben mittlerweile ebenfalls eigene Archive und Museen, in denen die Geschichte dieser traditionsreichen Unternehmen bewahrt und in die Zukunft weitergetragen wird. Die folgenden Ausführungen sollen in fünf Thesen darlegen, warum es für Unternehmen wichtig ist, sich mit der eigenen Geschichte zu befassen.
Warum Geschichte?
Erstens: Information und Wissen
In der heutigen wissensbasierten Welt sind Informationen für Unternehmen von entscheidender Bedeutung, da sie die Grundlage für strategische Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit bilden. Sie ermöglichen es, Markttrends zu identifizieren, Kundenbedürfnisse zu erkennen und Produkte oder Dienstleistungen entsprechend anzupassen. Ein gut informiertes Unternehmen kann daher effektiver auf Marktdynamiken reagieren und fundiertere Entscheidungen treffen. Die Geschichte eines Unternehmens erweist sich hierbei als reichhaltige Informationsquelle. Archive spielen dabei eine wichtige Rolle, indem sie diese Informationen sammeln und bewahren, um ein dauerhaftes Gedächtnis des Unternehmens zu schaffen. Derzeit werden solche Informationen für diverse Anwendungsfälle genutzt, wie beispielsweise Kundenanfragen und Firmenjubiläen. Firmen wie Mercedes oder BMW bieten sogar Zugang zu umfassenden Datenarchiven über Online-Portale. Trotz dieser Nutzung bleibt das volle Potenzial historischer Daten häufig jedoch unerschlossen, vor allem da viele dieser Informationen noch nicht digitalisiert sind. Die Digitalisierung und der Einsatz moderner Technologien wie Künstliche Intelligenz könnten den Zugang zu diesem Wissen zukünftig vereinfachen – ja revolutionieren. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat in seinem Buch 'Homo Deus' den Begriff 'Dataismus' geprägt, der die wachsende Bedeutung von Daten in unserer Gesellschaft hervorhebt [2]. Nach Harari könnten in einer datengetriebenen Welt zukünftig Künstliche Intelligenz und Algorithmen dabei helfen, neue Muster und Zusammenhänge in historischen Daten aufzudecken, was zu besseren Unternehmensentscheidungen führen könnte. Derzeit ist das Analysieren dieser Daten eine langwierige Aufgabe, die von Archivaren und Historikern manuell durchgeführt wird. Die Integration von KI könnte in Zukunft jedoch eine effizientere Nutzung dieser Daten ermöglichen und neue Möglichkeiten für strategische Entscheidungen eröffnen. Ein durch KI unterstütztes Unternehmensarchiv könnte somit zu einer unerschöpflichen Wissensquelle werden. Die Herausforderungen bei der Nutzung dieser Archive sind zwar groß, doch mit den richtigen Werkzeugen und Ansätzen könnte der darin verborgene Schatz gehoben und nutzbar gemacht werden. Es ist daher entscheidend, diese Informationen schon heute für zukünftige Generationen zu erhalten und zugänglich zu machen.
Zweitens: Orientierung und Erkenntnisgewinn
Die Weitergabe von Erfahrung und Wissen ist aus evolutionärer Perspektive ein grundlegender Aspekt des menschlichen Fortschritts. Sie ermöglicht es uns, auf den Errungenschaften und Fehlern von vorangegangenen Generationen aufzubauen, uns kontinuierlich weiterzuentwickeln und als Menschheit zu gedeihen. Dieser Prozess, der als kulturelle Evolution bezeichnet wird, ist einzigartig für die menschliche Spezies und hat eine entscheidende Rolle in ihrer Entwicklung gespielt. Die kulturelle Evolution unterscheidet sich von der biologischen Evolution, da sie auf dem Lernen und der Weitergabe von Informationen, Fähigkeiten und Traditionen von einer Generation zur nächsten basiert, statt auf genetischer Vererbung. Jede Generation muss dieses Wissen folglich aufs Neue erwerben. Diese Fähigkeit, Wissen und Erfahrungen zu sammeln, zu bewahren und weiterzugeben, hat es den Menschen ermöglicht, sich schnell an eine Vielzahl von Umgebungen und Bedingungen anzupassen und komplexe Gesellschaften zu entwickeln. In der Frühzeit der menschlichen Geschichte ermöglichte die Weitergabe von Wissen das Überleben. Grundlegende Fähigkeiten wie die Herstellung von Werkzeugen, Jagdtechniken, das Sammeln von Nahrung und später die Landwirtschaft und das Siedlungswesen wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Diese Wissensübertragung führte zur Ansammlung von Fähigkeiten, die es den Menschen ermöglichte, effizienter zu leben und sich in einer widrigen Umwelt zurechtzufinden. Über die Zeit hinweg entwickelten sich auch die Methoden, wie dieses Wissen weitergegeben wurde. Die Erfindung der Sprache ermöglichte eine viel effizientere und präzisere Übermittlung von Informationen. Später führten die Erfindung der Schrift und der Drucktechnik zu einer Revolution in der Wissensspeicherung und -verbreitung. Bücher und andere schriftliche Dokumente ermöglichten es, Wissen über weite Entfernungen und über viele Generationen hinweg zu bewahren und zu teilen. Diese Wissens- und Erfahrungsweitergabe hat sich in der modernen Welt exponentiell weiterentwickelt. In unserer schnelllebigen, technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft hat die Fähigkeit, Wissen effizient zu teilen und zu nutzen, einen nie dagewesenen Fortschritt ermöglicht.
Für die Unternehmen ist dieser Prozess gleichermaßen relevant und bildet die Grundlage für Innovation, Anpassungsfähigkeit und ihren langfristigen Erfolg. Auf die Unternehmenswelt übertragen bedeutet das: Organisationen, die in der Lage sind, aus ihrer Geschichte zu lernen und diese Erkenntnisse – ihr mühsam erworbenes Wissen, ihr Know-how und ihr historisch gewachsenes Regelwerk – über Generationen hinweg weiterzugeben, sind bestens gerüstet, um sich an Veränderungen anzupassen und zukünftige Herausforderungen zu meistern. Die aus der Geschichte gewonnenen Erkenntnisse über vergangene Ereignisse und Entscheidungen haben für die Unternehmen somit eine wertvolle Erkenntnis- und Orientierungsfunktion. Richtig angewandt, gibt die Geschichte den Unternehmen nicht nur die Möglichkeit, den Erfahrungsschatz und das Wissen vorangegangener Generation zu bewahren und darauf aufzubauen (um nicht jedes Mal von Neuem lernen zu müssen), sondern auch einen wichtigen Verhaltens- und Orientierungsrahmen im Hinblick auf die Kultur und Werte des jeweiligen Unternehmens. Sie hilft dabei, die historisch gewachsenen Werte und Prinzipien zu verstehen, die das Unternehmen geprägt haben. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für das Management, sondern auch für alle Mitarbeitende wichtig. Indem Unternehmen dieses Organisationswissen bestmöglich bewahren und aktiv tradieren, das heißt vor allem kommunizieren (Stichwort Storytelling), können sie aus der Vergangenheit Lektionen für ihr Handeln in der Gegenwart und Zukunft ableiten.
Drittens: Identitäts- und Markenbildung
Im Kontext der Unternehmensführung sind Unternehmensidentität und Markenbildung essenziell für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens. Beide Konzepte sind eng miteinander verknüpft. Die Unternehmensidentität bezieht sich auf das innere Wesen und die Kerncharakteristika eines Unternehmens. Sie umfasst Elemente wie die Unternehmensmission, -werte,
-kultur, ethische Grundsätze und Arbeitsweisen. Sie ist prägend dafür, wie das Unternehmen denkt und funktioniert und nach welchen Überzeugungen und Werten die Mitarbeitenden handeln. Für die Mitarbeitenden bietet eine starke Unternehmensidentität Orientierung und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Sie hilft ihnen zu verstehen, wofür das Unternehmen steht und was von ihnen erwartet wird und fördert so das Engagement und die Motivation. Schließlich ist die Unternehmensidentität auch für die strategische Ausrichtung und Entscheidungsfindung wichtig. Sie ist ein interner Kompass, eine Art Leitplanke für unternehmerische Entscheidungen und stellt sicher, dass Unternehmensstrategien und -ziele mit den Kernwerten und der übergreifenden Mission des Unternehmens übereinstimmen. Markenbildung richtet sich dagegen auf die Darstellung der Unternehmensidentität nach außen. Sie beinhaltet, wie das Unternehmen von externen Stakeholdern, insbesondere Kunden, wahrgenommen wird. Die Marke ist die Summe aller Wahrnehmungen und Erfahrungen, die Menschen mit dem Unternehmen verbinden und umfasst Aspekte wie das visuelle Erscheinungsbild (Logo, Farbschema), die Kommunikation (Werbebotschaften, Tonfall) und das Kundenerlebnis. Das Verhältnis zwischen Unternehmensidentität und Markenbildung kann als ein Prozess der Übersetzung angesehen werden: Eine starke und konsistente Marke entsteht, wenn die Außendarstellung (Marke) mit der eigenen Selbstwahrnehmung (Unternehmensidentität) übereinstimmt [3]. Eine authentische und effektive Markenbildung ist in diesem Sinne nur möglich, wenn sie auf einer soliden und klar definierten Unternehmensidentität aufbaut.
Die Bedeutung der eigenen Geschichte für die Identitäts- und Markenbildung wird besonders deutlich, wenn man sie auf die Ebene des Individuums herunterbricht. In Bewerbungsgesprächen stellt sich der Kandidat seinem Gegenüber mit seinem Lebenslauf vor. Er referenziert auf den persönlichen Werdegang und seine Geschichte – woher er kommt, welche Stationen er durchlaufen und was er geleistet hat. Der Gießener Historiker und Philosoph Odo Marquard fasste diesen Gedanken so zusammen: "Identität ist die Antwort auf die Frage, wer einer ist. Und wer einer ist, erfährt man durch seine Geschichte." [4]. Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf Unternehmen und Organisationen übertragen. Ihre Geschichte bildet die Grundlage, auf der Identität und Marke aufgebaut sind. Sie bietet einen narrativen Rahmen, der es ermöglicht, die Entwicklung, die Werte und die Besonderheiten der Unternehmen zu kommunizieren und zu vermitteln. Dieses Narrativ ist entscheidend dafür, wie ein Unternehmen von seinen internen und externen Stakeholdern wahrgenommen wird, und trägt wesentlich dazu bei, ein kohärentes und authentisches Selbst- und Fremdverständnis zu schaffen [5].
Unternehmen formen ihre Identität und Werte oft durch erzählerische Elemente, wie den Gründungsmythos, überwundene Herausforderungen und erreichte Erfolge. Diese Geschichten prägen die Außenwahrnehmung der Unternehmen. Ein Beispiel hierfür ist Apple, das sein Image auf einer tief verwurzelten Innovationsgeschichte aufbaut, beginnend mit der legendären Gründung in einer Garage, über die zwischenzeitliche Vertreibung ihres Gründers und Visionärs Steve Jobs, bis hin zu seiner erfolgreichen Rückkehr und der Einführung bahnbrechender Produkte wie dem iPod oder dem revolutionären iPhone. Bei Claas ist es hingegen der Mythos vom 'Knoter', der als Schlüsselmoment in der Gründungszeit gilt und als Sinnbild für den Innovationsgeist des Unternehmens steht. Dieser Mythos setzt sich fort in der Erzählung von der Einführung des ersten europäischen Mähdreschers durch das Unternehmen im Jahr 1936, der als revolutionär gilt, und aus dem das Unternehmen bis heute den an sich selbst gestellten Anspruch auf Technologieführerschaft im Mähdrescherbau ableitet. Solche Erzählungen tragen wesentlich dazu bei, bei Mitarbeitenden ein Gefühl von Stolz und Verbundenheit zu schaffen und stärken die Markenidentität.
Mitarbeitende, die sich als Teil einer langen und erfolgreichen Tradition sehen, sind oft motivierter und engagierter. Sie identifizieren sich stärker mit dem Unternehmen und seinen Zielen. Dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem Unternehmen, als Verbindung der eigenen mit der Geschichte des Unternehmens, kann dazu beitragen, eine starke Unternehmenskultur aufzubauen, die auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen, einer starken Identifikation, basiert. Dies kann bei Unternehmen insbesondere in Phasen der Expansion, Fusion oder Neuausrichtung von Bedeutung sein, in denen die Gefahr besteht, dass die ursprünglichen identitätsbasierten Werte und Missionen des Unternehmens verwässert werden. Marquard betont hier die Bedeutung der erzählenden Geschichte in der modernen Welt: In einer Zeit, in der rationale und technologische Ansätze dominieren, erfüllt die Geschichte eine wichtige kompensatorische Funktion. Sie hilft, die menschlichen Aspekte und die Verbindung zur Vergangenheit in einer zunehmend versachlichten Welt durch das Erzählen einzuordnen. Mit seinem Leitsatz 'Zukunft braucht Herkunft' betont Marquard, dass ein fundiertes Verständnis und die Wertschätzung der Vergangenheit grundlegend sind, um sich in einer sich ständig wandelnden Zukunft zu behaupten [6]. Daher sollte die Rückbesinnung auf die Geschichte nicht als rückwärtsgewandt verstanden werden, sondern als dynamischer und lebendiger Teil der Identitätsbildung und -entwicklung, sowohl für Unternehmen als auch für Individuen.
Bild 1: Beispiel Claas: Im Firmenmuseum und Sammlungsdepot wird die Unternehmens- und Produktgeschichte lebendig, was wesentlich zur Identitäts- und Markenbildung beiträgt [7].
Figure 1: Example Claas: In the company museum and collection depot, the company's and its products' history comes to life, significantly contributing to the identity and brand building of the company [7].
Viertens: Glaubwürdigkeit und Vertrauen
Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind Schlüsselelemente in der Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Stakeholdern – etwa seinen Kunden, Mitarbeitenden, den Investoren oder der breiteren Öffentlichkeit. Die Geschichte eines Unternehmens stellt dabei eine wichtige Quelle für Vertrauen und Glaubwürdigkeit dar. Wie oben bereits erläutert, ist die eigene Geschichte immer als ein Narrativ zu begreifen. Es zeigt, wie das Unternehmen Herausforderungen gemeistert, für welche Werte es eingestanden und wie es seine Ziele verfolgt hat. Sie ermöglicht es den Stakeholdern, das Unternehmen nicht nur auf Basis seiner aktuellen Leistungen und Versprechen, sondern auch im Lichte seiner vergangenen Handlungen und Errungenschaften zu bewerten. Insbesondere in Zeiten von Krisen kann die Unternehmensgeschichte eine entscheidende Ressource für den Aufbau und die Aufrechterhaltung dieses Vertrauens sein. Sie dient als ein konkretes Zeugnis der Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens. Historische Beispiele in denen das Unternehmen Herausforderungen erfolgreich gemeistert hat, können als Belege für die Fähigkeit des Unternehmens dienen, auch aktuelle Krisen zu überstehen. Diese Erfolgsgeschichten aus der Vergangenheit bieten Mitarbeitenden, Kunden und Partnern eine Grundlage für Vertrauen und Hoffnung. Sie zeigen, dass das Unternehmen über die notwendigen Ressourcen, Erfahrungen und die Fähigkeit verfügt, auch neue Herausforderungen zu meistern und gestärkt aus Krisen hervorzugehen. In diesem Sinne kann die Unternehmensgeschichte als ein eine Art Prüfstein für die Glaubwürdigkeit des Unternehmens begriffen werden. Vertrauen entsteht, wenn Stakeholder das Gefühl haben, dass ein Unternehmen konsistent, ehrlich und verantwortungsbewusst handelt. Eine gut dokumentierte und kommunizierte Unternehmensgeschichte kann diese Wahrnehmung verstärken. Hat ein Unternehmen über Jahre hinweg gezeigt – dies ist natürlich Voraussetzung, dass es sich an seine Werte hält, selbst in schwierigen Zeiten, oder dass es fähig ist, aus Fehlern zu lernen und sich weiterzuentwickeln - dann stärkt dies das Vertrauen in das Unternehmen.
Bild 2: Innovation aus Tradition. In der Werbung kann der Verweis auf eine lange positive Unternehmens- und Produkttradition die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in eine Marke nachhaltig stärken [7].
Figure 2: Innovation from tradition. In advertising, referencing a long and positive company and product tradition can significantly enhance the credibility and trust in a brand [7].
Vertrauen aber setzt Glaubwürdigkeit voraus. Geschichte kann den Unternehmen dabei helfen, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Glaubwürdigkeit entsteht durch die Übereinstimmung zwischen dem, was ein Unternehmen sagt, und dem, was es tut. Die Unternehmensgeschichte kann als Beleg dafür dienen, dass das Unternehmen seine Versprechen und Verpflichtungen ernst nimmt. Dies hat sich insbesondere im Kontext des Marketings und der Produktwerbung von großem Vorteil für Unternehmen herausgestellt, die über eine lange und positive Markentradition verfügen [8]. Eine Geschichte, die über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte reicht, kann ein starkes Zeugnis beispielsweise für die Qualität und Beständigkeit der Produkte sein. Unternehmen, die seit Generationen bestehen, können auf diese Weise ihre langjährige Erfahrung und ihr besonderes Engagement für Qualität hervorheben. In einer Zeit, in der Kunden den Übertreibungen und Hochglanz-Imagekampagnen der Unternehmen zunehmend kritisch gegenüberstehen, kann die Unternehmensgeschichte somit eine Quelle für Authentizität und Glaubwürdigkeit sein. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn die Erzählungen und Geschichten von echten Menschen, realen Ereignissen und auf authentischen Erfahrungen beruhen, wie dies eben bei der Geschichte der Fall ist. Diese Geschichten, wenn sie gut inszeniert sind, können nachweislich eine hohe emotionale Verbindung zu den Kunden schaffen und das Vertrauen in die Marke und ihre Produkte emotional aufladen.
Fünftens: Innovation und Kreativität
Die Unternehmensgeschichte kann auch für Innovation und Kreativität eine nützliche Inspirationsquelle sein. Denn die Historie liefert ein reichhaltiges Reservoir an Erfahrungen, Erkenntnissen, Ideen und Konzepten, die neu interpretiert oder weiterentwickelt werden können. Beispielsweise können frühere Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle, die vielleicht ihrer Zeit voraus waren, in einem neuen Kontext oder mit neuer Technologie wieder aufgegriffen und neu erfunden werden. Das Geschichtsfeld kann somit eine Perspektive anbieten, die dazu anregt, über bestehende Grenzen hinauszudenken und bewährte Konzepte auf innovative Weise neu zu gestalten. Die Bewältigung von Herausforderungen und Hindernissen in der Vergangenheit kann für Unternehmen eine Quelle der Inspiration sein. Geschichten darüber, wie kreative Lösungen für Probleme gefunden oder neue Chancen erschlossen wurden, unterstreichen die Bedeutung von Beharrlichkeit, Experimentierfreude und dem Mut, neue Wege zu gehen. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte des Großtraktors Xerion von Claas. Ursprünglich in Anlehnung an den Geräteträger Huckepack aus den 1950er-Jahren als landwirtschaftliches Mehrzweckfahrzeug konzipiert, hat sich der Xerion trotz vieler Widrigkeiten zu einem strategisch bedeutsamen Produkt für das Unternehmen entwickelt und sich im Spitzenfeld des internationalen Traktorenbaus etabliert.
In einer offenen Unternehmenskultur können solche Geschichten die Mitarbeitenden dazu motivieren, eigene innovative Ansätze zu verfolgen und sich nicht von Rückschlägen entmutigen zu lassen. Auf diese Weise kann die Unternehmensgeschichte dazu beitragen, eine Kultur der Innovation und Kreativität zu fördern. Unternehmen, die die Geschichte ihrer Produkte und Innovationen wertschätzen, indem sie beispielsweise ein eigenes Firmenmuseum betreiben und die Produkte dort ausstellten, vermitteln ihren Mitarbeitenden, dass ihre Leistung und Kreativität gewürdigt und belohnt werden. Die Geschichte lehrt die Mitarbeitenden auch, dass sich die Wirklichkeit ständig verändert und weiterentwickelt. Diese Erkenntnis hilft, sich auf stetigen Wandel einzustellen und zu verstehen, dass aktuelle Zustände weder als dramatisch noch als statisch anzusehen sind. Vor diesem Hintergrund fördert ein tiefes Verständnis der eigenen Geschichte kritisches und unabhängiges Denken. Es ermutigt Mitarbeitende, bestehende Annahmen zu hinterfragen, aus vergangenen Fehlern und Erfolgen zu lernen und so zu innovativen und fundierteren Entscheidungen zu gelangen. Eine solche Perspektive kann dazu beitragen, um eine dynamischere, anpassungsfähige und kreativere Arbeitskultur zu schaffen.
Zusammenfassung
Der Mensch ist untrennbar mit seiner Geschichte verbunden. Sie bildet das Fundament seines Denkens und Handelns – oder wie Proust es ausdrückte: "Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit" [9]. Lange Zeit haben Unternehmen den Wert ihrer Geschichte unterschätzt, doch zunehmend erkennen sie ihre strategische Bedeutung. Viele Unternehmen haben verstanden, dass ein tieferes Verständnis der Vergangenheit notwendig ist, um die Gegenwart zu begreifen und fundiertere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Daher: Zukunft braucht Herkunft! Archive als Gedächtnisorte nehmen hierbei eine Schlüsselrolle ein. Sie sind nicht nur Bewahrer historischen Wissens, sondern tragen auch wesentlich dazu bei, Identität und Markenimage der Unternehmen zu stärken. Es ist an der Zeit, dass Unternehmen sich dieser Chancen und der Verantwortung bewusstwerden und ihre Geschichte aktiv pflegen.
Literatur
[1] Kroker, E.; Köhne-Lindenlaub, R.; Reininghaus, W.; Soénius, U. S. (Hrsg.): Handbuch für Wirtschaftsarchive. Theorie und Praxis. 2. Auflage, München: Walter de Gruyter GmbH & Co KG 2005, ISBN: 3 486 556727 6.
[2] Harari, Y. N.: Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen. München: C.H.Beck 2017, ISBN: 978 3 406 80118 1.
[3] Burmann, C.; Zeplin, S.: Innengerichtetes identitätsbasiertes Markenmanagement - State-of-the-Art und Forschungsbedarf. In: Burmann, C. (Hrsg.): LiM-Arbeitspapiere, Bremen: Universität Bremen Fachbereich Wirtschaftswissenschaft 2004.
[4] Marquard, O.; Stierle, K. (Hrsg.): Poetik und Hermeneutik: Identität. Bd. 8, München: Wilhelm Fink Verlag 1979, ISBN: 3 770 51580-3.
[5] Meffert, H.: Was macht eine starke Marke aus? Identitätsorientierte Markenführung als Fundament. In: Herbrand, N. O., Röhrig, S. (Hrsg.): Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation – Konzepte und Instrumente zur ganzheitlichen Ausschöpfung des Erfolgspotenzials der Markenhistorie, Stuttgart. Edition Neues Fachwissen 2006, S. 125-149.
[6] Marquard, O.: Zukunft braucht Herkunft: philosophische Essays. Stuttgart: Reclam 2003, ISBN: 978 3 150 50040 8.
[7] CLAAS KgaA mbH: Bildrechte. Zugriff aus Beständen 2024.
[8] Schug, A.: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen. Bielefeld: transcript Verlag 2003, ISBN: 978 3 89942 161 3.
[9] Möller, H.: Erinnerung (en), Geschichte, Identität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2001, S. 8-14.
Autorendaten
M.A. / Dipl.-Archivar Tomislav Novoselac leitet die Abteilung Group History bei der Firma CLAAS in Harsewinkel.